Samstag in Europa - Gefährliche Begegnungen
Uraufführung | Mit dem Bürgerchor „Wir sind die nebelfreie Stadt" von Dagrun Hintze
Der Soziologe Heinz Bude prägte jüngst den Begriff der „gefährlichen Begegnung", die aufgrund der gesellschaftlichen Veränderungen, die wir erleben, inzwischen alltäglich geworden sei. Menschen unterschiedlichster Herkunft und Kultur treffen aufeinander und können nicht mehr auf einen gemeinsamen Code zurückgreifen, der auf den ersten Blick verlässliche Informationen über „den Anderen" liefert. Unsicherheit entsteht, vielleicht auch ein Gefühl von Bedrohung. Dabei kann Nicht-Wissen enorm produktiv sein. Weil es Neugierde und Entdeckerlust zu entfachen vermag und die Lust auf Überraschungen. Laut Bude gibt es keinen besseren Ort als das Theater, um unter Partizipation der Zuschauer neue kreative Räume zur Lösung anstehender Zukunftsfragen zu entwickeln. Deshalb möchte das Theater der Stadt Aalen sein 25-jähriges Bestehen feiern, indem es „gefährliche Begegnungen" initiiert. „Am liebsten erinnere ich mich an die Zukunft“ lautet das Motto der Jubiläumsspielzeit und will Mut machen, den Blick nicht auf die eigene Peer Group zu beschränken, sondern neue Plattformen für einen gesamtgesellschaftlichen Dialog zu schaffen.
Die erste „gefährliche Begegnung" der Jubiläumsspielzeit ist das Aufeinandertreffen zweier Autorinnen, die unterschiedlicher kaum sein könnten: Sedef Ecer und Dagrun Hintze. Gemeinsam haben sie das Episodenstück „Samstag in Europa" entwickelt. Schauplatz ist ein Bahnhofscafé – am selben Abend, in vier europäischen Metropolen.
Paris. Budapest. Hamburg. Istanbul. Die Menschen, die sich hier am Samstagabend begegnen, verbindet nur eins: Sie befinden sich in Europa. Und jeder von ihnen möchte auf seine Weise nach den Sternen greifen, aber das erweist sich als recht kompliziert – für den in Ungarn einst verbotenen Künstler und den ängstlichen Lieferanten in Paris, für das geflüchtete syrische Ehepaar in Hamburg und die Angehörige eines Attentatopfers in Istanbul, für die ungewollt Schwangere und den liberalen Imam. Nur wenig hat der geschiedene Apfel-Bauer Michael mit der alleinerziehenden Julia, die sich in der Flüchtlingshilfe engagiert, gemein. Und zwischen der politisch aktiven Galeristin Rona und dem radikalisierten Barbesitzer kommt es sowieso sofort zum Konflikt. Ungeahnte Kräfte sorgen dafür, dass die Figuren all diesen „gefährlichen Begegnungen" nicht ausweichen können, sondern ihre Vorurteile überprüfen und ihren Horizont erweitern müssen, auch wenn es wehtut.
Für den Chor, der die Großstadtepisoden rahmt und kommentiert, hat Dagrun Hintze in Aalen recherchiert und zahlreiche Interviews geführt. Unter dem Titel „Wir sind die nebelfreie Stadt“ versammelt sie die kollektiven Erinnerungen Aalens und die Erfahrungen mit „dem Fremden" durch die Geschichte. Die vielstimmige Collage aus O-Tönen, Sachtexten, Gedichten und Schlagern versucht, eine heutige Identität der Stadt zu formulieren, und wird von einem eigens für die Aufführung zusammengestellten Bürgerchor aus Aalenerinnen und Aalenern performt.
Sedef Ecer wurde 1965 als Tochter von TV-Produzenten in Istanbul geboren und war als Kind einer der großen Stars des türkischen Fernsehens. Ihr Studium führte sie nach Paris, wo sie bis heute lebt und arbeitet, vor allem als Autorin von Theaterstücken, Romanen und Hörspielen, aber auch als Schauspielerin und Regisseurin. Seit 2008 schreibt sie auch auf Französisch. Ihr zweiter Theatertext „Am Rand“ wurde 2011 mit dem prix d‘écriture théâtrale der Stadt Guérande ausgezeichnet, UA 2014 im théâtre Jean Vilar (Paris), DSE 2015 am Theater der Stadt Aalen (Regie: Tina Brüggemann), danach von Hansgünther Heyme im Rahmen der Ruhrfestspiele 2016. Weitere Theatertexte folgten, sowie eine Einladung zum Theaterfestival in Istanbul. Für „Samstag in Europa – Gefährliche Begegnungen“ hat sie die Szenen in Istanbul und Paris geschrieben. Übersetzung des französischen Teils: Marie-Louise Brüggemann
Dagrun Hintze, 1971 in Lübeck geboren, studierte Germanistik, Kunstgeschichte und Theaterwissenschaft in Würzburg und Antwerpen und war im Anschluss als Regieassistentin und Regisseurin am Theater Lübeck und am Staatstheater Kassel engagiert. Seit 1999 lebt sie als freie Autorin in Hamburg, veröffentlichte Lyrik und Prosa in diversen Zeitschriften und Anthologien und wurde für ihre Arbeit mehrfach ausgezeichnet. Nach der Uraufführung von „Intensivstation" (2009 am Theater Ulm) folgten die Recherche-Stücke „Die Zärtlichkeit der Russen" (2011) und „Mischpoke – Eine jüdische Chronik von damals bis heute“ (2015), die beidean der Bürgerbühne des Staatsschauspiel Dresdens herauskamen. Gemeinsam mit Elisabeth Burchhardt schrieb sie außerdem die Komödie „Damen mit Lift" (UA 2013 am Ernst Deutsch Theater in Hamburg). Sie publiziert regelmäßig über zeitgenössische Kunst und Dokumentartheater. Für „Samstag in Europa – Gefährliche Begegnungen“ hat sie die Szenen in Hamburg und Budapest geschrieben sowie den Bürgerchor.
Fotos von Peter Schlipf